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Volkskultur = Kultur für alle:

Ein Gespräch über Sichtbarkeit, Kunst und Irritation

Beim Ensemble „Die Welt auf den Kopf stellen“ (DWAKS) arbeiten Künstler*innen vom Griessner Stadl gemeinsam mit Menschen mit Behinderung aus der Lebenshilfe Murau. Für das neue Fotoprojekt „Volkskultur = Kultur für alle“ stellen sie die radikale Frage: Was passiert, wenn Menschen mit Behinderung in Räume drängen, die eigentlich exklusiv sind?
Ferdinand Nagele, Obmann des Kunstvereins Grissner Stadl im Interview.

Was ist das Projekt „Volkskultur = Kultur für alle“?

Es gibt diese wunderbaren analogen Fotos von Friedl Kubelka. Das ist eine weltweit renommierte Fotografin, die ausschließlich analog fotografiert. Das heißt, es werden keine 1.000 Bilder gemacht, sondern in der Kamera ist ein Film mit 12 Fotos. Und erst, wenn sie entwickelt sind, sieht man, wie die Fotos geworden sind.

Diese Fotos werden im Mai 2026 im Rahmen einer großen Ausstellung im Griessner Stadl präsentiert. Das Rahmenprogramm wird von unserem Ensemble DWAKS („Die Welt auf den Kopf stellen“) gestaltet, bestehend aus Künstler*innen der Lebenshilfe und des Griessner Stadls.

Was ist die Idee hinter diesem Projekt und worum geht es genau?

Es gibt viele Projekte, in denen künstlerisch mit Menschen mit Behinderung gearbeitet wird. Meine Beobachtung ist, dass bei diesen Projekten Künstler*innen in eine Organisation kommen und mit den Menschen arbeiten.

Überspitzt ausgedrückt: Da kommt ein*e Schauspieler*in in die Lebenshilfe, macht was mit Menschen mit Behinderung. Im Idealfall kommt am Schluss ein liebes Theaterstück und nette Fotos heraus. Und wer zuschaut, sagt dann: „Mei, lieb! Dass die das können!“

Genau das interessiert uns nicht.

Sondern?

Wir stellen die Behauptung auf, dass Menschen mit Behinderung per se gut sind. Das heißt: Wir wollen keine Menschen mit Behinderung „normal“ machen. Wir wollen nicht, dass Menschen mit Behinderung „funktionieren“, damit sie in künstlerische Prozesse „hineinpassen“.

Ernst Sommer von der Lebenshilfe Murau stand für das Kunstprojekt "Volkskultur = Kultur für alle" vor der Kamera. © Ferdinand Nagele
Was heißt das für das Ensemble?

Unsere Arbeit setzt eine große Bereitschaft und einen Mut von Künstler*innen voraus, mit denen wir zusammenarbeiten: Sie müssen bereit sein, ihre Kunst in Frage zu stellen.

Wir haben zum Beispiel Künstler*innen bei uns im Ensemble, die haben Trisomie 21. Die sind durch extreme Anstrengung ihrer Eltern durchs Regelschulsystem gegangen, sind der Sprache mächtig und „funktionieren“ eigentlich gut. Dann haben wir aber auch ganz bewusst Menschen dabei, die nicht den üblichen Normen entsprechen und die beispielsweise keine verbale Sprache haben. Da wird es dann interessant.

Das bedeutet?

Menschen mit Behinderung sind Störungen im System. Sie irritieren unser neoliberales Bild vom immer funktionierenden Menschen – und genau darin liegt ihre Kraft. Wir wollen genau das: den Menschen die Würde lassen und mit ihnen arbeiten, wie sie sind.

 

Wie funktioniert das im künstlerischen Prozess?

Wir sind natürlich immer wieder versucht zu sagen: Jetzt üben wir etwas ein. Und dann haben wir ein paar Schauspieler*innen, die unsere großen Lehrmeister*innen sind – denn sie reagieren immer anders, als wir es gerne hätten. Genau das macht die Arbeit interessant!

Unser Projekt ist mittlerweile sehr international und deshalb sind wir immer wieder zu internationalen Kongressen eingeladen, um über unsere Arbeit zu reden. Ich sage dann: „Nein, ich komme sicher nicht und rede über das Projekt.“ Wenn, dann kommen wir alle, das ganze DWAKS-Ensemble. Da werden dann auch Workshops angeleitet von Menschen mit Behinderung.

Diese Kongresse haben „Diversity“ und „Inklusion“ im Namen, aber wenn ich sage „Passt, wir kommen mit unserem Ensemble!“ geht das auf einmal nicht. Das ist interessant: Über Diversität und Inklusion wird oft gesprochen – aber ernst genommen wird es nicht.

Wie werdet ihr angenommen, wenn ihr teilnehmt?

Wir intervenieren schon allein mit unserer Präsenz. Wir urgieren uns wo hinein, wo wir eigentlich nicht hingehören. Es wird gerne über uns als Kunstprojekt geredet, aber wenn wir dann mit unserer ganzen Realität und unseren Bedürfnissen präsent sind, wird’s manchmal unbequem – aber genau das braucht es.

In der Organisation hat man uns nicht so gern. Aber wenn wir dann dort sein, unsere Sachen machen und diese ganzen Wissenschaftler*innen und Künstler*innen schon mit unserer Präsenz aufmischen, dann sind wir sofort der künstlerische Höhepunkt und alle sind begeistert.

Unsere Arbeit besteht aus einer Anmaßung – im besten Sinne. Wir sagen: Okay, wir sind Menschen. Wir sind Künstler*innen. Wir nehmen überall den Platz sein, wo auch die anderen sind. Deswegen reden wir auch nicht viel über Inklusion, sondern wir tun das einfach.

 

„Sichtbarkeit entsteht, wenn wir Räume erobern, in denen wir sonst nicht vorkommen.“

Ferdinand Nagele, Obmann des Kunstvereins Grissner Stadl

 

Ihr nehmt Platz ein – jetzt auch in der Volkskultur.

Genau. Wenn man sich zum Beispiel das Aufsteirern in Graz anschaut: Alle Menschen haben Trachten an – aber man sieht nie Menschen mit Behinderung in Tracht. Und deshalb haben wir uns gedacht: Da gehen wir rein. Wir zeigen Menschen mit Behinderung in steirischen Trachten. Das haben wir dem Steirischen Heimatwerk vorgeschlagen und die waren gleich begeistert.

Dafür haben wir dann eben die Fotografin Friedl Kubelka mit ins Boot geholt, bekannt aus der Wiener Aktionismus-Szene und eine der weltweit renommiertesten Fotografinnen ihrer Generation.

Uns war es wichtig, dass bei dem Projekt verschiedene Welten aufeinandertreffen: einerseits der Griessner Stadl, das Ensemble mit Menschen mit Behinderung aus der Lebenshilfe Murau, das Steirische Heimatwerk, andererseits haben wir auch Leute von der Landjugend und vom Techno-DJ-Kollektiv KAZE ELZA dazu eingeladen. Sie alle sind abgebildet worden: Menschen aus der österreichischen Kulturszene, die gerne Trachten tragen.

Auch das Kunsthaus Graz war gleich interessiert und so ist die Ausstellung während des Aufsteirerns entstanden.

© Philipp Rirsch

Was passiert, wenn man solche Räume erobert und Menschen mit Behinderung sichtbar werden?

Es passiert, dass Kommunikation entsteht, Vorurteile und Berührungsängste abgebaut werden.

Auch mir ging es so: Ich habe mit Menschen mit Behinderung eigentlich wenig zu tun gehabt. Nicht weil ich sie ablehne, sondern weil mit unwohl war und ich nicht gewusst habe, wie ich mich verhalten soll. Aber ich habe gemerkt – wie auch die Leute, mit denen wir arbeiten: Man vergisst, dass man mit Menschen mit Behinderung arbeitet.

Für die Leute, die uns erleben, beginnt ein irreversibler Prozess. Ich bin überzeugt davon, dass Bewegung und Veränderung beginnt in der menschlichen Beziehung – und das fängt in der Zweierbeziehung an. So kann ich Funken streuen und dann in konzentrischen Kreisen den glühenden Kern immer größer machen.

 

 

 

Am 3. Dezember ist Tag der Menschen mit Behinderung.

Anlässlich dieses Tages starten wir unsere Schwerpunktwoche #Sichtbarkeit, weil Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft noch immer viel zu oft übersehen werden: in Kultur, Medien, Politik und Alltag

Lebenshilfe Steiermark
Mariahilferplatz 5/1
8020 Graz